Mathelehrer und Doktor der Naturwissenschaften, Alexander Samuel ermittelt in Sachen Tränengas, das gegen « Gelbwesten » eingesetzt wird. Seine Methode : In die Rauchschwaden eintauchen, um dann Blut- und Urintests zu machen.
Von EMMANUELLE ANIZON Photos BRUNO COUTIER
Öfters haben wir ihn in einer weissen Wolke verschwinden sehen, aus der er einige Minuten später wieder auftauchte : lange, wirre, rötliche Mähne, rote Augen, krebsfarbenes Gesicht, weinend, hustend, schwankend, nahe am Zusammenbruch…. Alexander Samuel, 34 Jahre, Dr. rer. nat. in Molekularbiologie, Mathelehrer an einer Berufsschule in Grasse und Liebhaber philosophischer Anschauungsweisen hätte sich nie vorgestellt einmal freiwillig Tränengas während einer Demo einzuatmen. Noch wie ein Drogenschmuggler Frankreich zu durchqueren mit Blut- und Urinflakons im Kofferraum seines Autos, auf der Suche nach einem Labor, das bereit wäre, diese Ladung anzunehmen. Und noch viel weniger hat er damit gerechnet von der Justiz wegen « Gefährdung des Lebens anderer » vorgeladen zu werden. Er, dessen einziger zugegebener Gewaltakt darin besteht regelmässig in ein Mikro zu brüllen, umgeben von den Mitgliedern seiner Metal-Band.
Alexander geriet am 23. März aus Versehen in die Sache hinein. An diesem Tag begab sich der Leherer dessen Herz doch « ziemlich links schlägt » als « Beobachter » zu einer Demo der « Gelbwesten » nach Nizza. Er wurde von einer Gruppe, SOS UNO, kontaktiert, die Gewaltakte der Polizei auflistet.
« Als sie erfuhren dass ich ein Doktorat in Naturwissenschaften besitze, haben sie mich gebeten ihnen zu helfen, um die Auswirkungen des Tränengases zu untersuchen. Sie nannten zahlreiche Symptome: Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Muskelschmerzen, starke Kopfschmerzen, Migräne, sogar Bewusstlosigkeit, Probleme mit der Lunge, dem Herz, der Leber… « Gelbwesten » wurden hospitalisiert. Sie dachten an eine Blausäurevergiftung. Blausäure ! Ich hielt sie für verrückt. Aber da es sehr viele Aussagen gab, nahm ich mir vor, Licht in die Sache zu bringen. »
Alex zieht gerne Sachen ans Licht. Schon an der Uni in Nizza fiel der brilliante, teils französisch, teils deutsche Doktorant auf, wegen seiner Neigung die Nase in bestimmte Sachen zu stecken – Veruntreuung von Subventionen, Korruption der Studentengewerkschaften und andere Machenschaften. « Alex ist ein Forscher, der nicht nur forscht sondern findet », bezeugt Guillaume ein ehemaliger Kollege, « er sammelte umfassendes Beweismaterial, holte Dokumente zusammen, nahm Gespräche auf, er kombinierte die Vorgehensweisen von Ermittlung und Forschung. »
Langzeittoxizität
Der Lehrer vertieft sich also in die « Literatur », wie man im Jargon sagt, das heisst in die wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema. Methodisch berichtet er über seine Entdeckungen auf seiner Webside www.gazlacrymo. Er erfährt dass das von den Ordnugshütern verwendete CS Gas kein Cyanid als solches enthält, sondern einer seiner Bestandteile, das Malonitril, wird zu Cyanid, wenn es in den Körper eindringt. Der Mensch verträgt geringe Cyanidmengen, Raucher, Personen, die viel Kohl, Mandeln oder Maniok essen, verdauen es. In höheren Dosen verursacht das Cyanid eine Hypoxie, einen Sauerstoffmangel. Und es kann töten, auch wenn in Frankreich Cyanid als Todesursache noch nicht bescheinigt wurde. « Die betroffene Person empfindet es wie einen Würgegriff », erklärt Alex, « und was hat das wohl für Auswirkungen auf die Gesundheit, wenn man jedes Wochenende gewürgt wird ? Man sagt uns, dass das Tränengas nicht gefährlich sei, aber man kennt nicht wirklich seine Langzeitwirkung auf die Gesundheit. » Der Wissenschaftler verbringt seine Tage und Nächte mit dem, was er für « eine Frage des Öffentlichen Gesundheitswesens » hält. «Tränengas wird heute von den Ordnungskräften massiv eingesetzt, und nicht nur gegen « Gelbwesten », Ökos von der Pont de Sully, Party Freaks beim Fête de la Musique in Nantes, Anwohner und Geschäftsleute, alle wurden dem Gas ausgesetzt, und allen voran die Polizisten selbst. » Diese jedoch tragen meistens Gasmasken zum Schutz, aber am 28. Juni hat dennoch ein Polizeikommandant unter der Pont de Sully wegen Tränengas das Bewusstsein verloren.
Das Cyanid verschwindet in weniger als 30 Minuten nachdem man dem Tränengas ausgesetzt war. Jedoch hinterlässt es im Körper einen Biomarker, das Thiocyanat, der mehrere Wochen lang nachgewiesen werden kann. « Ich habe Analysenresultate von Gelbwesten gesehen, deren Wert dreimal höher als der normale war » ereifert sich Alex der Kontakt zu Toxikologen, Ärzten und Forschern in Frankreich und im Ausland aufnimmt. Die Reaktionen sind widersprüchlich, es gibt die, wie Jean Marc Sapori von der Giftnotrufzentrale Lyon, die ihm sagen, er sei auf dem Irrweg und andere, die ihn ermutigen seine « bemerkenswerte » Arbeit weiterzuführen wie André Picot, Vorsitzender der Fachgesellschaft Toxikologie-Chemie, ganz zu schweigen von denen die ihm zuraunen « passen Sie auf sich auf, Sie greifen hier ein zu heikles Thema an ». Er telefoniert viel und wird mehr und mehr angerufen. Jemand möchte ihm geheime Dokumente über Gasopfer während des Algerienkriegs übergeben. Unzählige « Gelbwesten » wollen bezeugen, schicken ihre Analyseergebnisse : wir tragen ihre Symptome in Tabellen ein und sehen weitere seltsame Dinge hervorkommen. Zum Beispiel treten bei vielen Frauen selbst nach der Menopause heftige Regelblutungen auf. Eine Ärztin der Uniklinik Lyon schreibt ihn wegen einem häufig dem Gas ausgesetzten Patienten an : « er leidet an einem Leberschaden unbekannter Ursache : Ich frage mich ob das seine Pathologie erklären könnte » meint sie.
Blutentnahmen mitten auf der Strasse
Was antworten ? Wie diese Piste unwiderlegbar bestätigen ? Da die Gesundheitsbehörden das Thema nicht aufnehmen und das Innenministerium nur « bitte weitergehen, nichts Bemerkenswertes » einhämmert, beschliessen Alex und drei Ärzte – der Anästhesist Renaud, die Allgemeinmedizinerin Josyane und die Augenärztin Christiane – Krankenschwestern und einige Gelbwesten frische Blutproben direkt während der Demo zu entnehmen.
Während seiner Nachforschungen stiess Alex auf einen Schweizer Hersteller, CyanoGuard, der Kits zur Messung des Cyanidgehalts im Blut herausbrachte. « Das funktioniert wie ein Alkoholtest, solange die Farbe orange bleibt ist es o.k., wenn sie ins Violette übergeht ist der Cyanidgehalt gefährlich hoch. Die sind ernst zu nehmen, sie haben in der bedeutenden Zeitschrift der Royal Society of Chemistry publiziert, das FBI arbeitet mit ihren Produkten. » Alex und die Ärzte kaufen 10 Kits a 15 € und gleichzeitig wollen sie Blutproben ins Labor schicken, um den Thiocyanatgehalt zu bestimmen. « Wenn man beide Methoden miteinander kombiniert, wird die Zuverlässigkeit der Resultate bestärkt. » Und so kam es, dass die « Gelbwesten » am 20. April in Paris zwischen Gasschwaden, Rauch, LBD Launchern und Panikbewegungen eine kleine mit Helmen, Spritzen und Blutentnahmeröhrchen ausgerüstete Gruppe Personen sahen, die Blutproben direkt auf dem Trottoir entnahmen.
Die Resultate sind enttäuschend : die Farbschattierungen des Cyanokits sind schwer zu interpretieren. « CyanoGard sagt uns « das ist positiv », aber ich hatte Zweifel. Weitere Überraschung : die Resultate für die Thiocyanatspiegel, die vom einzigen dafür zuständigen Labor Frankreichs in Lyon erstellt wurden sind meistens negativ. « Auch die der Raucher, was unmöglich ist ! » Alex kann sich ein verschmiztes Lausbuben-Lächeln nicht verbeissen und wird dabei rot. Der Lehrer will nicht annehmen, dass die Resultate absichtlich gefälscht seien, aber er hält es für zweckdienlich neue Blutentnahmeröhrchen in einem ausländischen « unabhängigen » Labor analysieren zu lassen.
Am 1. Mai, während es am Rande einer Gewerkschaftskundgebung in Paris zu Ausschreitungen kam, schlägt die kleine Gruppe wieder zu, diesmal in der Eingangshalle eines Wohnhauses vor neugierigen Blicken geschützt. « « Gelbwesten » warteten an der Tür, um uns zu verprügeln », weil die Aktivisten-Gruppe beunruhigt. Innerhalb SOS UNO, wovon Alex und die Ärze sich distanzierten, kam es zu politischen Querelen und Meinungsverschiedenheiten. Videos über Blutentnahmen zirkulieren in den sozialen Netzwerken, welche die Ärzte wie Mörder erscheinen lassen. Die Medien berichten von einer « Gelbweste » deren Schwäche das Ärzteteam ausgenuzt hätte, um eine Blutprobe zu entnehmen. Die Ärztekammer wird eingeschaltet, sie erklärt, dass es an sich nicht verboten sei, eine Blutprobe auf offener Strasse zu entnehmen, aber dass dabei bestimmte Vorschriften zu beachten seien. « Unsere Blutproben wurden unter Beachtung dieser Regeln entnommen und alle betroffenen Personen unterzeichneten ein schriftliches Einverständnis » versichern die Ärzte des Teams. Die Staatsanwaltschaft eröffnet Ermittlungen. Der Direktor der Schule, an der Alex unterrichtet, bekommt Emails, die den « erleuchteten Spinner » denunzieren.
Unter diesem massiven Druck bekommen manche der Gruppe Angst und geben auf. Aber nicht Alex, der mit einem Kern kühner Mitstreiter nochmals bei Null anfängt. Man wirft ihnen vor das Blut anderer zu entnehmen ? Jetzt entnehmen sie es bei sich selbst. Nicht mehr auf der Strasse, sondern im ersten Stock eines Fast-Food in Montpellier, der (dank der Komplizenschaft des Pro-Gelbwesten Geschäftsführers) in ein Underground -Lazarett umgewandelt wurde. An diesem Tag war der « Obs » mit dabei und ebenso der Schweizer Fabrikant des Cyanokit, der persönlich anreiste, um die Operation zu überwachen. Dieses Mal konnte der Blausäuregehalt beziffert werden. « Wir sind von 0 oder 0,1 vor Begasung auf 0,7 danach gestiegen », analysiert Alex, « wobei sich der Gefährlichkeits-Schwellwert bei 0,5 situiert. Das bedeutet, dass Bausäure und Gas zusammenhängen. » Nur, dass für Toxikologen die Zahlen dieses nicht homologisierten Kits keinen offiziellen Beweis darstellen. Gleichzeitig hat Alex die Blutentnahmeröhrchen für die Thiocyanat-Analyse eigenhändig in einer bekannten belgischen Universität abgegeben. Vierundzwanzig Stunden Autofahrt. Die Professoren, offensichtlich interessiert, haben sich lange mit ihm unterhalten, aber ihr Labor hat sich schliesslich inkompetent erklärt. « Sie wollen keine Schwierigkeiten, sie wissen, dass sie dem französischen Staat gegenüberstehen » interpretiert Alex. Angst oder nicht, es musste weitergesucht werden. Die Deutschen zögerten, haben an ein englisches Labor verwiesen, welches die Proben akzeptierte. Die Blutentnahmeröhrchen sind angekommen… aber zu spät… « Pff, sie waren hämolysiert » stöhnt Alex. Übersetzung : zu alt.
Vorladung vom Gericht
Der Fortsetzungsroman ging weiter, wir ersparen Ihnen die einzelnen Episoden. Erwähnen wir dennoch Urinanalyse durch Massenspektronomie, mit Verteilung von Urinprobebechern an « Gelbwesten ». « Sie blieben sehr misstrauisch, wir konnten nur zwei Urinproben einbringen… darunter der meine » gibt Alex zu. Zwei, das ist wenig. Aber für 50 € die Analyse hätten sie sich auf keinen Fall viele Tests leisten können. Mit den Cyanokits, Versandkosten, Analysen, Anwalt, Benzinkostren meint der Lehrer an die 5000 € ausgegeben zu haben, d.h. einen guten Teil seiner Ersparnisse, die er für Renovierungsarbeiten seiner neuen Wohnung vorgesehen hatte. Er erzählt es mit seinem verschmitzem Spitzbuben-Lächeln. Er sagt, es sei ihm egal. Was ihn stört ist das Gerichtsverfahren wegen « Gefährdung des Lebens anderer » und « verbotener Forschung ». Anfang Juli wurden er und die drei Ärzte lange verhört. Sie riskieren Strafvollzug. Das sollte sie einschüchtern. Warum noch länger in diesem Misthaufen herumstochern ? « Wir hören nicht auf, bevor eine ernshafte epidemioliogische Studie die Angelegenheit übernimmt. » Mit seinem Ärztetrio will Alex einen Appell an den öffentlichen Gesundheitsdienst richten. In der Zwischenzeit wird er weitehin Dinge zutage fördern.
A propos Tränengas
Tränengas ist eine chemische Verbindung, die Reizungen der Augen und der Atemwege hervorruft. Wie für jede chemische Waffe ist sein Einsatz in bewaffneten Konflikten durch die Chemiewaffenkonvention verboten. Paradoxerweise gilt dieses Verbot nicht im Rahmen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Es gibt mehrere Arten von Tränengas. In Frankreich verwenden die OrdnungsKräfte das CS-Gas (2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril) und zwar immer massiver, wie es die Demos der letzten Jahre zeigten. Die Gefährlichkeit dieses Gases ist proportional zu seiner Konzentration und den Einsatzbedingungen. Offiziell ist es nicht tödlich, aber von Todesfällen wurde berichtet bei Verwendung in geschlossenem Millieu wie während der Belagerung der Branch Davidias-Sekte von Waco 1993 in USA oder auch bei Aufständen in Ägypten und Bahrein. In Frankreich beträgt die CS-Konzentration in den Sprengkörpern 10% teilt uns die Polizeidirektion mit, und präzisiert : Wir verwenden das Gas schon so lange, dass, wenn es gefährlich wäre, dann wären wir selbst die ersten Opfer und unsere Polizeigewerkschaften hätten es angeprangert.